BUCH-PROJEKT


Im dem Buch NICHT MEHR SCHWEIGEN erzählen Christinnen und Christen von ihrem persönlichen Coming-out. Auch Timo teilt dort seine Geschichte. Im Interview berichtet er über das Buchprojekt, das er ins Leben rief und in Kooperation mit der Initiative Zwischenraum e. V. umsetzt.

»Ich hatte Angst, dass mir mein Leben um die Ohren fliegt.«

– Auszüge aus einem am 17.02.2017 auf evangelisch.de veröffentlichten Interview mit Matthias Albrecht 

MATTHIAS: Timo, du arbeitest an dem Buch »NICHT MEHR SCHWEIGEN – Der  lange Weg queerer Christen zu einem authentischen Leben«. Was ist das für ein Buch? Worum geht es dort genau?

 

TIMO: Das Buch spiegelt die Auseinandersetzungen von homo-, bi- und transsexuellen Christen, die inmitten ihres christlichen Umfelds Probleme mit ihrer sexuellen Identität hatten und teilweise immer noch haben. Das Buch will die Lebenssituation dieser Personen sichtbar machen. Ich glaube, viele Menschen, gerade im frommen Bereich, haben kein Gesicht zu dem Thema, kein Gegenüber. Sie haben keinen Kontakt zu Lesben, Schwulen und Transgendern, und das möchte ich gerne ändern.

 

Angestoßen wurde das Buchprojekt in mir von der Schweizer Autorin Damaris Kofmehl, die in einer Dokumentation viele verschiedene Leute zum Thema »Homosexualität und Christsein« interviewt hat. Dazu kam ein Zwischenraum-Gesprächskreis, bei dem jeder, der wollte, von seinem Coming-out erzählte. Das war ein sehr emotionaler und für mich wertvoller Abend. Neben manchen Tränen, die geflossen sind, weil so manch ­einer auch noch mitten drinsteckt in der Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Umwelt, war es sehr ermutigend und bewegend, zu erleben, wie der Weg jedes Einzelnen war und an welchem Punkt er oder sie gerade steht. Seitdem hat mich der Gedanke nicht losgelassen, diese unterschiedlichen Lebensberichte in Form eines Buches zusammenzufassen und zu veröffentlichen, weil ich überzeugt bin, dass diese Geschichten gehört werden müssen und es dem ein oder anderen, der selbst »drinsteckt«, eine Hilfe sein wird, zu wissen, dass er nicht alleine ist.

 

Auch die Kontroversen um das Christival im Jahr 2008 haben mich lange beschäftigt, als es darum ging, ob dort ein Workshop zur angeblichen Heilung von Homosexualität angeboten werden sollte. Ich habe das noch als völlig Ungeouteter verfolgt. Damals dachte ich: Wahrscheinlich werde ich nie auf die Barrikaden gehen oder auf einer Demo mitlaufen. Das entspricht nicht meiner Persönlichkeit, ich bin nicht so ein lauter Mensch. Aber ich kann diese Menschen, die sich da empören, zutiefst verstehen. Menschen, die einfach irgendwann sagen: Es reicht! Jetzt hört uns endlich mal zu! Wir verstecken uns nicht mehr. Wir wollen gesehen werden. Wir wollen gehört und ernstgenommen werden. Und dieses Buch ist vielleicht so etwas wie ein Pendant dazu. Nicht laut und schrill herauszutreten, sondern in einer anderen Weise öffentlich deutlich zu machen: So ist die Situation von vielen homosexuellen Menschen.

 

MATTHIAS: Du willst den Menschen in der frommen Welt konkrete Personen und deren Zeugnisse nahebringen. Warum ist dir das wichtig?

 

TIMO: In meinem eigenen Leben hat mir das gefehlt. Ich kannte in meiner Kindheit kein einziges schwules oder lesbisches Paar. In meinem ganzen Dunstkreis kam das gar nicht vor. Ich konnte keinem eine Frage stellen. Ich kannte keine zwei Männer, die zusammen lebten – wo ich das hätte sehen können. Das Thema Homosexualität war so tabuisiert, dass es für mich als junger Mensch ganz schwer war, darüber auch nur nachzudenken. So konnte ich mich nie auf den Gedanken einlassen, dass meine sexuelle Identität anders sein könnte. Das Thema kam einfach nirgendwo vor. Und auch heute – Jahrzehnte später – vermisse ich in gewissen frommen Kreisen die persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Man scheut sich, dazu etwas zu sagen, weil man dann eben eine Meinung finden müsste und da sind viele sehr zurückhaltend.

 

Manch einer meint, Homosexualität sei nicht mit der Bibel vereinbar. Ich bin der Überzeugung, dass wir wegkommen müssen von dieser theologisch-theoretischen Debatte und Menschen ins Blickfeld rücken sollten, um zu merken, das sind Menschen wie du und ich. Jeder hat seine eigene Geschichte, jeder hat seine Ängste und Sorgen, seinen Glauben und seine Zweifel. Jemanden an seinen persönlichen Gedanken teilhaben zu lassen, ist ein Wagnis und zugleich ein großer Vertrauensbeweis. Das geht in der ganzen öffentlichen Diskussion um das Thema viel zu sehr unter. Es betrifft Menschen.

 

Menschen, die im Laufe ihres Lebens für sich entdecken, dass ihre sexuelle Identität nicht wie die meisten Menschen ihres Umfelds heterosexuell ist, geraten oft in ein Geflecht aus Verdrängung, Lügen und Einsamkeit gepaart mit der Angst, eines Tages alles zu verlieren, was ihnen lieb und teuer ist.

 

Meine persönliche Angst war immer, dass mir mein Leben um die Ohren fliegt, wenn ich es überhaupt einmal wage, das Thema irgendwo zur Sprache zu bringen. Und es hätte mir sehr geholfen, wenn ich andere Menschen kennengelernt hätte, denen es ähnlich ging. In einem Gespräch mit einem Gemeinde­leiter, das ich nach meinem Coming-out führte, sagte dieser zu mir, durch mich habe das Thema Homosexualität für ihn ein Gesicht bekommen, er könne das jetzt nicht mehr nur vom »Grünen Tisch« aus diskutieren. Ich glaube, das ist ganz wichtig und wertvoll, wenn Menschen, die nach wie vor ein Problem mit Homosexualität haben, betroffene Menschen treffen oder deren Geschichten lesen, um sie verstehen zu können.

 

MATTHIAS: Ist ein Coming-out innerhalb der frommen christlichen Welt etwas anderes, als in der säkularen oder theologisch-liberaleren Welt?

 

TIMO: Auf jeden Fall! In der Evangelischen Kirche, also in den Landeskirchen ist das Thema, zwar auch noch nicht überall, aber doch im Wesentlichen verarbeitet. Es ist bei vielen Menschen angekommen, dass man die drei oder fünf Bibelstellen nicht auf die Lebenssituation von heutigen lesbischen oder schwulen Christen übertragen kann. »Sodom und Gomorra« hat einfach nichts, aber auch gar nichts mit einer schwulen Liebesbeziehung zu tun – allerdings eine ganze Menge mit Ausländerfeindlichkeit und mangelnder Gastfreundschaft – das nur nebenbei. In konservativen Kreisen ist das hingegen ein ganz großes Thema. Gerade im letzten Jahr ist dort viel debattiert und gestritten worden. Ich möchte einfach einen Gegenpol setzen zu dieser ganzen theoretischen Diskussion, und tatsächlich die zu Wort kommen lassen, die es betrifft, die selbst viele Jahre ausgegrenzt wurden.

 

Als ich mein Coming-out hatte, habe ich selbst erlebt, ich bin schwul und ich bin Christ, und das sind zwei Welten, die treffen sich nicht. Die sind einfach zu weit auseinander. Die Christen wollen die Schwulen nicht. Und die Schwulen wollen die Christen nicht. Viele von ihnen sind zutiefst verletzt, weil sie ausgestoßen wurden. Ich war genau dazwischen und wusste nicht wohin. Die erste positive Reaktion in diesem Konflikt war für mich der Zuspruch eines evangelischen Pastors aus meiner Nachbarschaft, dem ich kurz nach meinem Coming-out meine Geschichte erzählte. Er war der erste Mensch, der zu mir sagte: »Es ist okay. Du bist ok. Lass es zu!« Und das hat sich tief eingebrannt in meine Seele. Diese Annahme war für mich überlebenswichtig. Sonst hätte ich nicht gewusst wohin, wie es weiter geht. Aber dass da Menschen waren, die mich so annahmen wie ich war, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich komme aus einer Glaubensrichtung, die Homosexualität nach wie vor ablehnt. Und das prägt – über viele Jahre.

 

Ich habe bei Zwischenraum eine Gruppe von Menschen gefunden, die ihren Glauben nicht aufgegeben haben, die nach vielem Ringen und Suchen zueinander gefunden haben und die sagen, wir können unsere Homosexualität mit unserem Glauben zusammenbringen. Und das hat mir sehr geholfen. Ich habe die Bibel durch Zwischenraum aus einem anderen Blickpunkt gesehen, mal wirklich hingesehen, was da steht – und was da nicht steht. Es war für mich sehr wertvoll in dem Schutzraum, den Zwischenraum bietet, einmal über Glauben und Sexualität offen reden zu können. Ich habe dort viele Menschen kennen und schätzen gelernt, die wie Geschwister für mich sind. Ich habe gemerkt: Gott gibt mich nicht auf. Gott hat nicht aufgehört, mich zu lieben. Und andersrum genauso. Doch durch mein Coming-out ist vieles erschüttert worden. Ich merkte auf einmal, wenn dieses zentrale Thema Homosexualität, so wie ich es bislang aus ­meinem Glauben heraus bewertet habe, so nicht stimmt und keine Antworten findet – was stimmt denn dann noch nicht? Was steht dann noch auf dem Prüfstand? Und dann bröckelte so eins nach dem anderen. Ich hatte wirklich Angst: Was bleibt denn jetzt noch? Und was mir geblieben ist, ist das Wissen, es gibt einen Vater im Himmel. Das war für mich immer klar. Und vielleicht reicht das jetzt auch gerade einfach. Vielleicht muss ich nicht auf alles eine Antwort finden. Vielleicht bleiben manche Fragen offen. Vielleicht reicht es, zu wissen: Der Vater im Himmel ist da. Er sieht mich. Er weiß alles. Er hat meinen Weg begleitet. Er weiß, wer ich bin, was ich innerlich fühle und auch wie es weitergeht. Er weiß, dass ich ihn lieb habe.

 

Ein schwuler muslimischer Freund sagte zu mir in der Phase, in der ich selbst so voller Fragen und Zweifel war: »Wirf deinen Glauben nicht weg!« Und obwohl wir kulturell und religiös aus völlig verschiedenen Welten kamen, war er mir so nahe, wie kein Mensch in meinem Leben. Das hat mir sehr geholfen, den Glauben nicht über Bord zu werfen, auch wenn Fragen und Zweifel da sind. Das hat mich sehr ermutigt. 

 

MATTHIAS: Die Geschichten in deinem Buch sind anonymisiert. Kannst du erklären weshalb?

 

TIMO: An den Geschichten sind neben den Autorinnen und Autoren auch immer andere Menschen beteiligt. Es ist ja niemand ganz allein im Leben unterwegs. Und ich möchte nicht, dass ein indirekt an der Geschichte Beteiligter unfreiwillig »geoutet« wird, weil die schreibende Person so offen schreibt. Das wäre ganz schwierig. Die Geschichten dürfen nicht so zuzuordnen sein, dass sie andere Menschen in Bedrängnis bringen. Daher ist der Schritt der Anonymität überlegt und berechtigt. 

 

Mir ist wichtig, dass in den Berichten einerseits der Schmerz sichtbar wird, den jede einzelne Person durchlebt hat. Der Schmerz der Ausgrenzung und der Angst. Auf der anderen Seite soll aus den Geschichten aber auch die Hoffnung sprechen, dass es weitergeht, dass man die nicht aufgeben muss, dass man seinen Glauben nicht über Bord werfen muss, wenn man schwul, lesbisch oder transgeschlechtlich ist – das eine sticht das andere überhaupt nicht aus. Auch wenn nicht jede Geschichte mit einem Happy End abschließt, ist es, glaube ich, ganz wertvoll, einmal so eine ganz persönliche Sicht zu sehen. 

 

Ich möchte, dass dieses Buch berührt, ermutigt, aber auch in die Verantwortung nimmt. In die Verantwortung, mit dem Thema Homosexualität und den betroffenen Menschen anders umzugehen und ihnen offen zu begegnen. Und Menschen, die selbst betroffen sind, sollen merken: Ich bin nicht alleine! Ich glaube, diese Sache mit dem Sich-allein-Fühlen, die ist nicht zu unterschätzen, gerade in christlichen Kreisen. Diesen Effekt wünsche ich mir sehr. Das Buch soll keine Anklage gegen die fromme Welt sein, sondern eine Ermutigung, sich mit Menschen auseinanderzusetzen.

 

 

Nach der langen Suche nach Annahme und vielen schmerzhaften Erlebnissen der Ausgrenzung ist das Aufatmen eines befreiten Lebens der bewegende Beleg dafür, dass die Liebe Gottes kein Aber kennt.

 

 

 

Das ursprüngliche Interview (Arbeitstitel des Buches »WEITERGLAUBEN – fromm und nicht hetero«) führte Matthias Albrecht, Jahrgang 1982. Er ist diplomierter Sozialarbeiter und hat einen Master in Gender Studies.